Die Würde des Menschen ... ja und ?
In einem offenen Brief haben sich die Verantwortlichen der Stadt Greven, der beiden christlichen Kirchen, der Deutsch-Türkischen Gemeinde und der Grevener Wirtschaft zur Flüchtlings-Thematik geäußert. Es ist gut so, dass sie mit der Würde des Menschen einen gemeinsamen Nenner gefunden haben. Dass die Würde des Menschen aber konkretisiert werden muss, um über eine plakative Floskel hinauszukommen, haben die Autoren oder Unterstützer des offenen Briefes entweder vergessen, oder sie haben es nicht geschafft, sich darüber einig zu werden. Beides wäre weniger gut – es weist den Weg in die Beliebigkeit.
Einen einzigen, bescheidenen Versuch haben Bürgermeister, Pfarrer, Imam und die Vertreter der Grevener Wirtschaft zur Konkretisierung der Würde des Menschen unternommen: Unsere erste Pflicht sei es, den Flüchtlingen „Obhut zu gewähren, ihnen eine angemessene Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung zu stellen“. Aber reicht denn das, ohne ein Wort darüber zu verlieren, was „angemessen“ ist?
Es hätte sich gelohnt, einen Blick in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu einem menschenwürdigen Existenzminimum zu werfen. Der darauf gerichtete verfassungsrechtliche Leistungsanspruch umfasst nämlich „sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit …, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010).
Die Würde des Menschen auf 5-10 Quadratmetern
Gewiss – es kann nicht alles von heute auf morgen perfekt sein. Aber sind die 10 Quadratmeter pro Person, von der die Stadt Greven als Richtschnur für die Unterbringung von Flüchtlingen ausgeht, im Sinne des Bundesverfassungsgerichtes als angemessen anzusehen? Eine Frage, die sich umso schärfer stellt, als die Stadt Greven ihre eigene Richtschnur de facto schon längst nicht mehr einhält? Gewährleistet ein einzelner Raum, der von einer sechsköpfigen Familie bewohnt wird, in dem kaum Platz für einen Tisch mit Stühlen vorhanden ist, die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“? Und hält die Stadt Greven es unter Berücksichtigung der Kriterien unseres obersten Gerichtes für angemessen, wenn beispielsweise in Reckenfeld mehrere ehemalige Klassenräume mit je 20 Personen belegt sind?
Die befristete Überlassung eines einzelnen Grundstücks
Müsste nicht vielleicht auch die katholische Kirche in Greven die Würde des Menschen mit deutlich mehr Inhalt füllen, wenn sie sich an den Worten ihres Papstes orientieren würde? Denn jede katholische Gemeinde, so hatte Franziskus vor Zehntausenden Gläubigen auf dem Petersplatz gesagt, jede geistliche Gemeinschaft, jedes Kloster und jeder Zufluchtsort solle eine Familie aufnehmen (vgl. Tagesschau.de, 06.09.2015). Davon hat man in Greven noch nicht so ganz viel vernommen, aber vielleicht soll das ja in ein paar Tagen als Weihnachtsbotschaft von der Kanzel aus verkündet werden. Passend zur Geschichte von dem Kind, das in der Krippe liegen musste, weil keine sonstige Unterkunft vorhanden war. Vielleicht überprüft die Pfarre St. Martinus ja anlässlich des „Festes der Liebe“, ob sie nicht noch etwas großzügigere Immobilienangebote zur Unterbringung von Flüchtlingen machen kann, als das bisher mit der eng befristeten Überlassung eines einzigen, unbebauten Grundstücks geschehen ist. Immerhin gilt die katholische Kirche als größter privater Immobilienbesitzer Deutschlands.
Papst Paul VI. hatte bereits vor fast 50 Jahren gesagt: „Die am meisten Bevorzugten müssen auf einige ihrer Rechte verzichten, um mit größerer Freigiebigkeit ihre Güter in den Dienst der anderen zu stellen (Octogesima adveniens, 14. Mai 1971).“ Die katholische Kirche (nicht nur in Greven) dürfte hier durchaus noch einigen Spielraum nach oben haben. Und das gilt trotz der Arbeit von caritativen Organisationen, die ja bekanntlich ohnehin zum größten Teil vom Staat finanziert werden, und trotz des Engagements einiger Ehrenamtler.
Forderungen – aber nicht an die eigene Adresse
Auch von der evangelischen Kirche in Greven hat es bisher nicht übermäßig viele Beispiele für eine besonders großzügige Interpretation der Würde des Flüchtlings gegeben – sieht man auch hier vom freiwilligen Engagement einzelner Gemeindemitglieder ab. Ähnlich wie die katholische muss sich auch die evangelische Kirche fragen lassen, wie hoch etwa ihre Ausgaben für Flüchtlinge gemessen an ihrem Gesamtbudget sind. Nimmt man die vorliegenden Zahlen aus Bayern einmal als Beispiel, wo die Ausgaben der evangelisch-lutherischen Landeskirche für Flüchtlinge bei gerade einmal einem Prozent des frei verfügbaren Budgets liegen, dann wird man vermutlich auch in unserer Gegend von einer vergleichbaren, bescheidenen Größenordnung ausgehen können (vgl. N. Oberhuber, Alles Kirchenmögliche, ZeitOnline vom 17.09.2015).
Und die Spitzen der EKD zeigen sich zwar verbal für das Elend und die Zukunft der Flüchtlinge sehr aufgeschlossen. Man kann aber den Eindruck gewinnen, dass sie sich weitgehend in politischen Statements und Forderungen ergehen, die sie selbst nicht in die Tat umzusetzen brauchen (vgl. Themenportal Flüchtlinge der EKD).
Die Verantwortlichkeit der Muslime
„Die DITIB trägt gegenüber den Hunderttausenden von Menschen, die aus ihrer Heimat ausreisen mussten und zu uns geflüchtet sind, eine große Verantwortung.“ So ist es zu lesen im KAGeS-Konzept der DITIB, dem Dachverband für die Koordinierung der religiösen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten der angeschlossenen türkisch-islamischen Moscheegemeinden, zu denen auch die Grevener Gemeinde gehört. In diesem Papier findet sich eine Reihe von möglichen Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge, und auch in den (spärlichen) Presseberichten über die Grevener Muslime ist die Rede von Aktivitäten zugunsten von Flüchtlingen. Etwas Genaueres darüber ist zumindest dem Autor dieser Zeilen nicht bekannt.
Es wäre jedenfalls zu wünschen, dass die Muslime Grevens ihre Verantwortung für die vielen Flüchtlinge, die sich zum Islam bekennen, auch nach außen hin deutlicher machen. Und eine bessere Information der Öffentlichkeit über ihr Angebot für Asylsuchende könnte sicher manche Vorurteile überwinden helfen. Ebenso wünschenswert wäre es aber, wenn die Vertreter aus Politik, christlichen Kirchen und anderen Institutionen die Grevener Muslime stärker mit „ins Boot“ nehmen würden und die Muslime sich dafür offen zeigten.
Eine Gans für die Flüchtlingshilfe – sonst noch was?
Zugegeben: Es gibt ein paar wenige Beispiele von einzelnen Angehörigen der Grevener Wirtschaft, die erkannt haben, dass der Würde des Menschen weniger damit gedient ist, wenn man sich mehr oder weniger lautstark darauf beruft, sondern man etwas ganz Konkretes dafür tut. In diesem Sinne sind mir aber bisher keine Aktivitäten der Grevener Unternehmerschaft in Erinnerung – mit Ausnahme der Gans, die für die Flüchtlingshilfe St.Martinus versteigert wurde.
Ich fasse daher die Unterschrift des Wirtschaftsforum-Vorsitzenden unter den gemeinsamen offenen Brief zugunsten der Würde des Flüchtlings als Absichtserklärung auf, diesen ziemlich leeren Begriff in Zukunft konkretisieren zu wollen. Im Sinne Erich Kästners: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Anregungen dazu gibt es beispielsweise hier oder dort.
In diesem Sinne könnte die Aussage „Die Unternehmer im Wirtschaftsforum Greven setzen sich in vielfältiger Weise für den Lebens- und Arbeitsstandort Greven ein.“ ganz neue Facetten bekommen.